Radikal Freiräume schaffen
Um echte Neuerungen zu entwickeln und voranzutreiben, brauchen die Menschen in einer Organisation Freiräume und diese Freiräume haben unterschiedliche Qualitäten. Die Herausforderung ist, sich von der operativen Getriebenheit distanzieren zu können und Raum, Zeit und Mut zu finden, um mit etwas Abstand auf das Tagesgeschäft zu schauen.
Solche Freiräume haben vier Qualitäten:
Zeitfenster ermöglichen die bewusste Beschäftigung mit dem Neuen, dem Unbekannten, dem nicht Offensichtlichen. Das müssen aber nicht monatelange Auszeiten sein, auch ein fixer Tag pro Woche oder pro Monat ist so ein Zeitfenster. Wichtig ist, dass dieser Zeitraum frei von operativer Getriebenheit ist.
Finanzielle Spielräume sind nötig, um Entwicklungen ins Leben zu helfen. Es geht vorerst um etwas Spielgeld, um Neues bearbeiten zu können, ohne Erfolgsdruck durch Renditen und messbare Ziele. Ein Verlust dieses Spielgelds sollte für das Unternehmen völlig unbedenklich sein. Wenn es schließlich um echtes Risikokapital geht und größere Summen benötigt werden, sind andere Risikobewertungen und Entscheidungen gefragt.
Innovation braucht Öffnung und daher die Freiheit, über die bestehenden Grenzen gehen zu dürfen. Das umfasst die Freiheit, sich mit anderen Systemen und Wissensgebieten systematisch auszutauschen – zum Beispiel durch gemeinsame Forschungsprojekte mit Universitäten und anderen Unternehmen.
Die Qualität des Loslassens – von bisherigen Denkmustern und Rahmenbedingungen – schafft die Freiräume im eigenen Denken. Dazu sollten zumindest in den ersten Phasen der Ideenentwicklung die bestehenden Steuerungs- und Kontrollinstrumente ausgesetzt werden. Um diese Freiräume zu schaffen, ist vor allem das Top-Management gefordert, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu setzen. Das bedeutet,…
- die Erlaubnis zu geben, innerhalb definierter Grenzen frei handeln zu dürfen; - die notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen und - eine Rahmenkultur vorzugeben sowie vorzuleben, die Erneuerung ermöglicht.
In Freiräumen ist Bewegung möglich Ein Vorstandsteam wollte neue Geschäftsmodelle entwickeln. Jedoch, die drei Manager waren von 8.00 Uhr morgens bis abends im Halbstunden- bis Stundentakt mit unterschiedlichen Themen beschäftigt – Routinemanagement aus dem Bilderbuch. Für Reflexionen oder neue Ideen blieb in dieser Zeitstruktur buchstäblich kein Platz. Eine der ersten Interventionen war daher, Zeitfenster für die Herausforderung zu schaffen, das Geschäftsmodell zu überdenken. Jeden zweiten Donnerstag ab Mittag sollte mit offenem Ende an diesem Thema gearbeitet werden. Dieses Zeitfenster wurde zunächst für ein halbes Jahr fixiert, ohne zu wissen, was an den einzelnen Terminen im Detail geschehen sollte.
Solche Freiräume im Denken und Handeln wurden auch in jenem Versicherungsunternehmen geschaffen, in dem wir zuerst mit 30 Top-Führungskräften die kollektiven Denkmodelle sicht- und dadurch bearbeitbar gemacht hatten. Dabei wurde deutlich, dass ein anderer Zugang zu Veränderung und Innovation notwendig war. Der CEO beschrieb die vorbereitete Vorgehensweise folgendermaßen: „Wir erstarren ein wenig in den gegenwärtigen und vergangenen Erfolgen. Neues kann nur schwer entstehen, weil wir uns extrem sicher mit dem fühlen, was wir bisher gemacht haben. Darauf können wir auch stolz sein – die Performance der letzten Jahre war sehr zufriedenstellend. Wir wissen aber, dass einiges an der Art, wie wir es heute tun, nicht zukunftstauglich ist. Die Digitalisierung ändert unsere Branche und das Verhalten unse-rer Kunden. Wir benötigen neue Zugänge. Als mittelständisches Unternehmen werden wir zwar keine disruptiven Innovationen schaffen und auch nicht brauchen. Was wir aber brauchen, sind kraftvolle, inkrementelle Schritte, Jahr für Jahr, und abgeleitet davon brauchen wir vielleicht den einen oder anderen radikaleren Ansatz. Daher werden wir folgenden Innovationsprozess starten: Jede Abteilung erhält ein frei verfügbares Budget für Neuerungen. Insge-samt verteilt der Vorstand heute Dreihunderttausend Euro. Dieses Geld ist frei verfügbar, ohne jede Kontrolle durch eine zentrale Stelle oder den Vorstand. Es soll für Neuerungen, Experimente und Innovationen eingesetzt werden. Es geht uns nicht nur um Ideen, sondern um Umsetzungen. Niemand wird sich rechtfertigen müssen, wenn wir Teile dieses Geldes verlie-ren, weil wir etwas ausprobiert haben, was nicht funktioniert hat. Bei unserer jährlichen Strategietagung wird vorgestellt, wie das Budget eingesetzt wurde, was gelungen ist und was nicht.“
Dieser Prozess läuft seit mittlerweile fünf Jahren, die verfügbaren Geldmittel wurden inzwischen erhöht. Jede der 30 Abteilungen bekommt seither pro Jahr ein Innovationskapital zwi-schen 5.000 und 20.000 Euro zur freien Verfügung, um an Ideen in den Bereichen Innovationskultur, Produkt- und Prozessinnovation, Sozial- oder Managementinnovation arbeiten zu können. Bei der Strategietagung stellen die Abteilungen ihre Ideen auf je einem Flipchart vor und gemeinsam wird der Favorit gewählt, der den Innovationspreis erhält. Weil ein radikaler Freiraum geschaffen wurde, um aus den bisherigen Denkweisen ausbrechen zu können, wandeln sich auch die zugrundeliegenden Denkmodelle – und damit das Verhalten. Ein sehr einfacher Zugang zur Innovation hat in der Organisation einen positiven Wettbewerb geschaffen und kraftvolle neue Ansatzpunkte hervorgebracht. Entscheidend war, dass die Umsetzung und das Handeln gefördert und gefordert wurden und werden. Es geht nicht um einen Ideenwettbewerb, sondern um neue Erfahrungen im neuen Handeln, es soll sofort experimentiert und umgesetzt werden.
So wurde in einer Landesdirektion dieses Unternehmen ein neuer Vertriebsweg über eine Social-Media-Plattform getestet. Inzwischen gehört diese Platt-form zum Standard des Konzerns. Überraschend für alle Beteiligten war, wie viele Innovati-onsthemen mit dem sozialen Zusammenwirken innerhalb der Organisation zu tun hatten. Ein-zelne Bereiche gestalteten ihre räumliche Arbeitssituation völlig neu, andere investierten die frei verfügbaren Mittel in die Verbesserung der internen Zusammenarbeit. Das Geheimnis hinter dieser Bewegung in der bestehenden Struktur ist der induktive Zugang. Natürlich ergeben sich dadurch eher inkrementelle Innovationen. Für radikalere Innovationen müsste dieser Ansatz mit anderen Zugängen verbunden werden, zum Beispiel mit dem Aufbau von Parallelsystemen.
Dieser Artikel wurde entnommen aus: Weiss, Mario (Hrsg.) (2016): Handlungskompetenz Innovation. Zugänge und Methoden für radikale Sprünge und Innovations-Managementsysteme. Bern: Haupt