Alles neu: Produkte, Geschäftsmodell, Organisation. Ein Praxisbeispiel zur Gestaltung von Innovation
Der Auslöser für ein radikales Erneuerungsprogramm der Bank deutete sich durch schwache Signale an. Die Digitalisierung und der damit verbundene, völlig neue Wettbewerb durch sogenannte Fintechs zeichneten sich bereits ab. Schon jetzt ist absehbar, dass Kunden eine Bank in Zukunft nur mehr in wenigen Situationen ihres Lebens von innen sehen werden. Gleichzeitig steigern regulatorische Anforderungen die Komplexität und treiben die Kosten in die Höhe. Diese Signale nahm man in dieser Bank schon früh war und sie rüttelten das Management auf: „Was geschieht in unserer Branche mit unserem Unternehmen?“ Gleichzeitig wusste man, dass sich die gewachsenen Strukturen nicht so schnell ändern lassen würden und viele Mitarbeiter ziemlich verwöhnt wirkten. Das zeigte sich in der Haltung: „Die Bank ist reich, was kann sie für mich tun?“ Oder: „Ab Freitagmittag arbeiten wir nicht mehr, egal, ob das die Kunden stört. Das ist unser wohlerworbenes Recht.“ Die vergangenen erfolgreichen Jahre hatten das Unternehmen selbstgefällig gemacht. Das System agierte beinahe autistisch, denn es brauchte die Kunden nicht wirklich, um erfolgreich zu sein. Im Bankgeschäft genügten andere Mechanismen, um Geld zu verdienen und erfolgreich zu sein. Das schien sich jetzt zu ändern.Diese Situation war nicht mit einem Veränderungsprojekt zu lösen. Es ging darum, das Unternehmen neu zu schaffen. Ausgehend vom Selbstverständnis mussten auch Produkte, Dienstleistungen und die meisten internen Strukturen und Prozesse radikal innoviert werden. Alles stellte sich in Frage, nicht sofort, aber spätestens innerhalb der nächsten drei bis fünf Jahre. In diesem zukunftsgezogenen Innovationsprogramm wurden mehr oder weniger alle Innovationsbausteine gebraucht.
Impulse sammeln und Denkmodelle hinterfragen
Einer der ersten Schritte in diesem umfassenden Innovationsprogramm war eine Impulsreise des Managementteams. Sie sollte einen Perspektivenwechsel ermöglichen, um neue Eindrücke zu zentralen Themen zu gewinnen. In einer Klausur wurden Fragen gesammelt, die jetzt wichtig werden konnten. Etwa: Wie sehen Bankprodukte in zehn Jahren aus? Was wird die Technologie können und wo werden auch dann noch Menschen gebraucht? Wie funktionieren Organisationen, die solche radikalen Innovationskuren schon hinter sich gebracht hatten? Wie wurden radikale Innovationsprozesse in anderen Unternehmen angelegt?
Auf der Impulsreise machte sich das Managementteam in Dreiergruppen zu Unternehmen auf, die in diesen Fragenstellungen besonders erfolgreich waren oder von denen angenommen werden konnte, dass sie die eigene Perspektive erweitern könnten. Die Auswertung der Ergebnisse führte dazu, dass im Management einige Denkmodelle und Grundannahmen über das eigene Geschäft hinterfragt wurden. Eines dieser Denkmodelle war: „Der Kunde will etwas von uns und daher kommt er sowieso in die Filiale. Wir müssen nur auf ihn warten.“ Man erkannte, dass dies so nicht mehr funktionieren würde. Der Kunde wird sich anders orientieren und gleichzeitig andere Wege zu seinen Finanzdienstleistern suchen. Da Denkmodelle die Grundlage des Handelns sind, galt es, hier einen neuen Zugang entgegenzusetzen: „Wir wollen etwas vom Kunden. Geschäft ist Holschuld. Wir steuern den Kunden.“ Rund 15 solcher Grundannahmen und Denkmodelle wurden durchleuchtet und überarbeitet.
Zukunftsbilder entwickeln
Zur selben Zeit baten wir die Mitglieder des Managementteams, ein Zukunftsbild, eine Vision ihrer Bank zu skizzieren: „Wie sehe ich einen Tag in unserer Bank im Jahr 20XX?“ Als die Manager miteinander über ihre Zukunftsbilder sprachen, wurde das in der Gegenwart entstehende Momentum deutlich spürbar. Im Kern hatten alle ähnliche Vorstellungen davon, wie die Bank in einigen Jahren aussehen sollte. Wichtig war, die Kraft dieses Zukunftsbildes durch konkretes Handeln in der Gegenwart erlebbar zu machen. Dabei ging es nicht um Strategien oder Maßnahmenpläne, die in der Organisation ausgerollt werden sollten. Es ging darum, Experimente zu starten und Pilotprojekte zu initiieren. Es sollte möglich sein, mit dem Neuen zu spielen und auch den einen oder anderen Misserfolg gut aushalten zu können. Rund 30 Experimente und Piloten wurden in den nächsten Monaten gestartet und mit entsprechenden Mitteln ausgestattet, unter anderem: ein neues Filialkonzept, die Einrichtung eines Future Labs, Projekte für eine neue IT-Plattform, die Reduktion von Gremien und Meetings, Infoveranstaltungen für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die sich mit den neuen Rahmenbedingungen beschäftigen wollten. Das System war in Bewegung gekommen.
Abbildung: Der Innovationsprozess als implizite Strategie
Vor allem das mittlere Management wünschte sich in dieser Phase mehr Klarheit. Gefordert wurden klare Analysen der Situation, scharfe, messbare Ziele und eine belastbare Strategie. Die Offenheit des experimentellen Zugangs war schwer auszuhalten. Als Antwort darauf wurde immer wieder betont, dass in turbulenten und unsicheren Zeiten andere Zugänge notwendig seien als unter stabilen Rahmenbedingungen. Man sei sich darüber im Klaren, dass in solchen Phasen niemand so genau wissen könne, wo es hingeht und auch nicht sicher sei, wie es überhaupt gehen werde. Allmählich wurde allen klar, dass schrittweise Annäherungen durch Experimente besser dabei halfen, die passenden Lösungen zu finden.
Heute, einige Jahre nach dem Start dieses Innovationsprogramms, ist noch keine Ruhe in der Branche eingekehrt, ganz im Gegenteil. Die Fragen der Zukunftssicherheit bleiben und sind womöglich Begleiter für viele weitere Jahre. Im beschriebenen Unternehmen haben sich durch das Innovationsprogramm einige Durchbruchsprojekte herauskristallisiert und entscheidende Schritte wurden umgesetzt, die eines deutlich machen: Das Unternehmen wird sich im neuen Wettbewerb behaupten können.
Dieser Artikel wurde entnommen aus:
Weiss, Mario (Hrsg.) (2016): Handlungskompetenz Innovation. Zugänge und Methoden für radikale Sprünge und Innovations-Managementsysteme. Bern: Haupt